Kunstbetrachtung im digitalen Raum.

Eine Analyse der Wahrnehmung digitaler Reproduktionen und virtueller Ausstellungskonzepte (Master Thesis)

Thomas Struth, Hermitage 5, Saint Petersburg, 2005, Fotografie, aus: Prometheus Bildarchiv, https://prometheus.uni-koeln.de/de/image/berlin_udk-d42f809cafe06a2a03452ca07ab273a110e75314 [01.07.2021].

09 August 2021

Kunstbetrachtung digital

Konzentriert blicken zwei junge Frauen auf den Bildschirm des Mobiltelefons, das die kleinere der beiden vor sich in die Höhe hält. Sie scheinen etwas mit dessen Kamera fotografieren zu wollen, dass nicht nur ihre, sondern auch die Blicke der Gruppe hinter ihnen in dem prunkvollen Raum in den Bann gezogen zu haben scheint. Es ist Leonardo da Vincis Madonna Benois, die als unsichtbares Gegenüber das Objekt des Beschauens und Fotografierens verkörpert.[1] (Abb. 1)

Wie ein Schnappschuss fängt Thomas Struths Fotografie Hermitage 5, Saint Petersburg von 2005 zwei Momente ein. Zum einen ist es der Moment der Kunstbetrachtung durch die Gruppe, die von interessiert bis abgelenkt das Kunstobjekt begutachtet. Zum anderen ist es der Moment der Digitalisierung durch die Digitalkamera des Mobiltelefons der beiden jungen Frauen, die den Anblick vor sich in ein maschinenlesbares Bild verwandeln. Die Technik wird zu einem zentralen Ankerpunkt des Bildes und visualisiert einen paradigmatischen Vorgang im Umgang mit Kunst: die digitale Konservierung von Kultur als maschinenlesbare Information.

Die Frage, die sich unwillkürlich stellt, ist, wie dieser Vorgang das Verhältnis zwischen Kunst und Betrachter:innen verändert. Wie stellt sich Kunstbetrachtung dar, wenn das gegenständliche Original in den digitalen Raum überführt wird? Was bedeutet die digitale Reproduktion für den Status des Kunstobjekts? Welche Veränderung vollzieht sich in der kontemplativen Kunsterfahrung, wenn statt des Originals die digitale Reproduktion betrachtet wird? Wie verändert sich die Rolle der Betrachter:innen und wie die Rolle der Institution Museum?

Diese Arbeit hat es sich zur Aufgabe gestellt, anhand der Analyse fünf verschiedener Beispiele herauszufinden, wie sich Kunstbetrachtung im digitalen Raum vollzieht und welche Rolle die digitale Reproduktion eines Kunstwerkes für dessen Wahrnehmung und seine Einbettung im institutionellen Rahmen hat.

Der Einzug digitaler (Ab-)Bilder in den Bereich der Kunstgeschichte und ihrer wissenschaftlichen Reflexion kann als interdisziplinäres Momentum gedeutet werden, in dem die traditionelle kunsthistorische Arbeitsweise an ihren Grenzen mit diversen anderen Wissenschaften eine Koalition eingeht.[2] So bedient sich nachfolgende Analyse neben Quellen der Kunstgeschichte, Kunstkritik und Museumskritik ebenso medienwissenschaftlichen, literaturwissenschaftlichen, philosophischen, kulturwissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen und informationstechnologischen Perspektiven. Es wird versucht, einen Überblick darüber zu geben, wie sich die Wahrnehmung digitaler Reproduktionen von materiellen Kunstwerken im digitalen Raum vollzieht. Die grundlegende Arbeitshypothese ist, dass eine Veränderung der Ontologie des Bildes und damit auch des Abbildes, unwillkürlich eine Veränderung der Wahrnehmung nach sich ziehen muss, die rückkoppelnd auch die Figur der Betrachter:innen und die Rolle der Museumsinstitutionen beeinflusst.

Aufgrund der ontologischen Differenz von Gemälde und Skulptur/Installation, also die Zweidimensionalität des ersteren und die raumgreifende Qualität letzterer, erfordern beide Formen jeweils besondere Weisen der Analyse unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Eigenschaften. Da der Umfang dieser Arbeit begrenzt ist, wird im Folgenden vornehmlich die Transformation der Wahrnehmung digitaler Reproduktionen von Bildern untersucht, nicht aber von raumgreifenden Objekten wie Skulpturen oder Installationen. Diese Entscheidung wurde getroffen, da Bilder derzeit als digitale Reproduktionen im wissenschaftlichen Rahmen dominieren, bzw. deren Digitalisierung durch Institutionen wie Museen weiter fortgeschritten ist als die von Skulpturen oder Installationen.[3] Darüber hinaus werden ebenso keine genuin digitalen Bilder untersucht; also Kunstobjekte, die digital geschaffen wurden. Diese verlangen nach einem eigenen Maßstab der Analyse, der mit dem hiesigen nicht kohärent ist.

Der Hauptteil dieser Arbeit gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil befasst sich mit der Fragestellung, wie Kunstwahrnehmung im wirklichen Raum erlebt wird und welchen Einfluss die technische Reproduzierbarkeit auf das auratische und kontemplative Wahrnehmen hat. Die Vorwegnahme dieser Untersuchungsaspekte der Wahrnehmung im analogen Raum ist wesentlich, damit anschließend ein fundierter Vergleich zwischen analoger und digitaler Kunstbetrachtung gezogen werden kann. Nach einem historischen Rückblick zur Wahrnehmungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert wird die wissenschaftliche Reflexion der technischen Reproduzierbarkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts am Beispiel André Malraux‘ Le Musée imaginaire de la sculpture mondiale dargestellt.[4] Die Idee, die technische Reproduktion führe zu einer Verkümmerung der Aura des Kunstobjektes, ist eine von Walter Benjamin 1936 konstatierte These,[5] die seither kontinuierlich im wissenschaftlichen Diskurs zum Thema Kunstreproduktion mitschwingt. Das auratische Erleben eines Kunstwerkes findet seinen Ursprung in einem Fetischisierungsprozess, der in Anlehnung an Untersuchungen von Jean-François Lyotard, Götz Großklaus und Hartmut Böhme erörtert wird.[6] Mittels zweier Wahrnehmungskonzepte von Johannes Grave und Oskar Bätschmann wird anschließend die kognitive und die philosophische Form der Wahrnehmung im analogen Raum skizziert, um als komparatistische Vorlage zur späteren Analyse digitaler Reproduktionen zu fungieren.[7]

Der zweite Teil, der Schwerpunkt dieser Arbeit, ist die Analyse der Wahrnehmung digitaler Reproduktionen und ihre Bedeutung für museale Konzepte. Mittels fünf verschiedener Beispiele wird untersucht und ermittelt, woran sich Veränderungen der Wahrnehmung im digitalen Raum manifestieren und was sich daraus für die Kunstbetrachtung ableiten lässt.

Die Analyse beginnt mit der Frage nach dem Verbleib des musealen Rituals im digitalen Raum. Dabei stehen vor allem die veränderten Zugangsbedingungen und technischen Modalitäten im Fokus, die die Kunstwahrnehmung in ein neues Verhältnis zu den Körpern der Betrachter:innen setzen. Die kognitive und kontemplative Wahrnehmung im digitalen Raum wird anhand der Wahrnehmungskonzepte nach Grave und Bätschmann untersucht.[8] In diesem Rahmen wird die Frage der Fetischisierung des Kunstobjektes neu gestellt und geprüft, ob und auf welche Weise Aura im digitalen Raum erfahren werden kann. Die Untersuchung einer virtuellen Museumsrekonstruktion mittels Virtual Reality-Bille gibt Aufschluss darüber, wie virtuelle Museumsräume die Körperlichkeit der Betrachter:innen mit einbeziehen und inwiefern das museale Ritual der Kunstbetrachtung in den digitalen Raum überführbar ist. Neben der Wahrnehmung innerhalb einer virtuellen Raumkonstruktion existieren auch Modelle, die eine autonome Verwendungsweise digitaler Kunstreproduktionen durch die Betrachter:innen erlauben. Eine solch eigenständige Nutzung stellt unwillkürlich die traditionelle museale Direktive infrage und verlangt nach einer Analyse der neuen Rolle des Museums sowie der neuen Rolle der Betrachter:innen im digitalen Raum. So bedeutet der digital turn für das Museum weitaus mehr als nur eine Online-Dependance zur Präsentation seines Sammlungsguts. Indem das Konzept Museum ganzheitlich digital gedacht wird, versteht sich es sich als soziale Einheit, die als konstituierende Kraft gestaltend auf die Gesellschaft einwirken kann. Die Digitalisierung dient dabei als Expansion musealer Bereiche, anhand derer Museen neue Modelle des Engagements entwickeln können.

Es wird im Folgenden der Versuch unternommen, die Frage der Wahrnehmung in Zeiten der Digitalität gemäß ihrer charakteristischen Diversität multiperspektivisch zu betrachten. So sollen die Worte Heinz von Foersters, die diese Problematik treffend beschreiben, den Einstieg in nachfolgende Arbeit bilden:

Zunächst glaubt man, das Problem der Wahrnehmung sei ein physiologisches, oder ein neurologisches, oder ein neuro-anatomisches, oder ein psychologisches etc., Problem; aber es sind gerade die Resultate dieser Wissenschaften, die immer wieder zeigen, daß Wahrnehmung ein logisch-philosophisches, ein sozio-kulturelles, manchmal sogar ein politisches Problem ist.[9]

[1] Bezzola, Tobia/Lingwood, James: Chronologie / Verzeichnis der ausgestellten Werke, in: Kruszynski, Anette/Dies. (Hrsg.): Thomas Struth. Fotografien 1978-2010, Bonn 2010.

[2] Hubertus Kohle verweist darauf, das eine digitale Kunstgeschichte notwendigerweise interdisziplinär agieren muss. Die Kunstgeschichte nähert sich so dem Bereich der Bildwissenschaft. Kohle, Hubertus: Digitale Bildwissenschaft, Glückstadt 2013, S. 13.

[3] Eine digitale Fotografie einer Skulptur wird in diesem Zusammenhang nicht als vollwertige Digitalisierung definiert, da die elementare Eigenschaft der Dreidimensionalität verloren geht. Ein gleichwertiges Digitalisat einer Skulptur wäre ein 3D-Modell, das die spezifischen Eigenschaften des Objektes nachbilden kann.

[4] Malraux, André: Psychologie der Kunst. Das imaginäre Museum, München 1957, S. 12.

[5] Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/Main 1963.

[6] Lyotard, Jean-François: Der Augenblick, Newman, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1993, S. 358, und Großklaus, Götz: Medien-Zeit Medien-Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne, Frankfurt am Main 1995, S. 156-158, und Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Hamburg 2006, S. 306.

[7] Grave, Johannes: Form, Struktur und Zeit. Bildliche Formkonstellationen und ihre rezeptionsästhetische Temporalität, in: Gamper, Michael u. a. (Hrsg.): Zeiten der Form - Formen der Zeit, Hannover 2016, S. 154, und Bätschmann, Oskar: Pygmalion als Betrachter. Die Rezeption von Plastik und Malerei in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Berlin 1992, S. 259.

[8] Grave 2016, S. 154, und Bätschmann 1992, S. 259.

[9] Foerster, Heinz von: Wahrnehmung, in: Electronica, Ars (Hrsg.): Philosophien der neuen Technologie, Berlin 1989, S. 27.

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