Das Museum als sozialpolitisches Instrument der Stadtgestaltung am Beispiel der Tate Modern in London.

Dercon, Chris/Serota, Nicholas (Hrsg.): Aerial view of Tate Modern June 2016, in: Dies. (Hrsg.): Tate Modern. Building a museum for the 21st century, London 2016. S. 105.

15 March 2021

Das Museum als regenerative Kraft urbaner Entwicklung

Am Südufer der Themse gelegen wirkt das ehemalige Kraftwerk, das heute ein Museum beherbergt, wie das industrielle Spiegelbild seines sakralen Gegenübers, des klassizistischen Barockbaus der St Paul’s Cathedral. In der Form eines monumentalen Ziegelsteins positioniert sich das von dem Architekten Giles Gilbert Scott designte Bauwerk der Länge nach parallel zum Ufer auf der Bankside und erinnert mit seinem 99 Meter hohen Schornstein an industrielle Zeiten.[1] Rückseitig entspringt ein rotbrauner Turm, ähnlich einer Zikkurat, der Außenwand des Gebäudes und tritt in Relation mit den umliegenden Hochhäusern, die sich dicht an dicht an das Museum drängen. Eingebettet in einen urbanen Komplex kolossaler Hochhausbauten, wendet sich das Museum flussseitig in Richtung Innenstadt, um über die Fußgängerbrücke Passanten in Empfang zu nehmen.

Das ehemalige Kraftwerk versinnbildlicht eine Historie industrieller Prosperität und urbanen Wachstums in London. Die Geschichte der Bankside auf der Südseite der Themse reicht zurück ins 16. Jahrhundert, in der sie vor allem als Ort der Unterhaltung eine Rolle spielt. Der Bezirk gehört damals nicht offiziell zur Stadt, sondern versteht sich eher als Vergnügungspark mit Schauspielhäusern und Theatern. In der Phase der Industrialisierung floriert die Bankside als Teil der industriellen Infrastruktur und dominiert den prosperierenden Handelshafen. Zum Ende der industriellen Produktion verkommt das Viertel zu einem „forgotten and depressed part of London“[2] in dessen Zentrum das leerstehende Kraftwerk von Giles Gilbert Scott ungenutzt auf eine neue Seinsbestimmung hofft.[3] Als die Tate Gallery sich 1994 dazu entschließt, das Gebäude zur Tate Gallery of Modern Art[4] umzubauen, beginnt die Phase der urbanen Regeneration in Southwark, dem südlichen Stadtteil Londons, Fahrt aufzunehmen.

Harvard University, Harvard Map Collection, London 1894 [zur Veranschaulichung wurde die Karte durch die Autorin bearbeitet. Farbliche Einzeichnungen, Ausschnitte sowie Vermerke sind nachträglich ergänzt worden und sind nicht Bestandteil der Karte], aus: Harvard Library, https://iiif.lib.harvard.edu/manifests/view/ids:7271043 [12.03.2021].

Die Tate Modern repräsentiert auf herausragende Weise das Dilemma des urbanen Museums. Als Repräsentationsmedium steht das Museum im Dienst der Gesellschaft und seiner beherbergten kulturellen Schätze.[5] Seine geographische Präsenz bleibt jedoch nicht konsequenzlos, sondern evoziert aufgrund der auratischen Anziehungskraft der Institution[6] eine städtebauliche Veränderung. Paradoxerweise führt die Existenz einer Entität, deren Aufgabe es ist, Kunstwerke langfristig aus der kommerziellen Umgebung des Marktes herauszulösen,[7] zu einer diametralen Entwicklung, dem wirtschaftlichen Aufschwung in seinem direkten Radius.[8]

Doch wenn sich der Museumsbau als wirtschaftliche Kraft in der Stadtentwicklung herausstellt, welche sozialpolitische Rolle wird der Institution in diesem Zusammenhang zuteil? Auf welche Art und Weise verändert das Museum die Stadtstruktur auf politischer, ökonomischer und sozio-strategischer Ebene?

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Phänomen der „culture-led regeneration“[9] nach Graeme Evans und Phyllida Shaw. Es soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, das Museum als eine treibende Kraft der urbanen Regeneration zu entschlüsseln. In diesem Rahmen wird dem Museum eine sekundäre Berufung als sozialpolitisches Instrument der urbanen Revitalisierung in der Stadtgestaltung zugesprochen. Anhand der historischen und kulturhistorischen Untersuchung der Tate Modern in London wird die Auswirkung der Museumseröffnung auf das urbane Umfeld analysiert. Die sogenannte Turbinenhalle[10] des Museums bildet dabei einen Verbindungspunkt zwischen urbanem Außenraum und musealem Innenraum als Ort der performativen Reflexion städtischen Lebens.

Als „im Dienst der Gesellschaft und deren Entwicklung“[11] stehende Institution vertritt das Museum eine zentrale Rolle bei der Konstituierung kollektiver kultureller Identität.[12] Folglich versteht sich die Funktion des Museums gemäß dem international council of museums (ICOM), als bewahrende, erforschende, präsentierende, vermittelnde und überliefernde permanente, öffentlich zugängliche Einrichtung, die das materielle Erbe der Menschheit wissenschaftlich aufbereitet und zur Verfügung stellt.[13] Während sich dieses Verständnis vor allem auf die nach innen gerichteten Funktionen des Museums bezieht, soll im Folgenden das museumsexterne Beziehungsgeflecht zwischen der Institution und ihrem urbanen Umfeld analysiert werden.[14]

Die Ergebnisse dieser Arbeit werden zeigen, dass die Institution ihrer traditionellen Definition dahingehend entwächst, als dass das Museum im Zeitalter der Globalisierung und Verstädterung als sozialpolitischer Faktor der Stadtgestaltung aktiv wird. Der Museumsbau ist keine unabhängige „Insel“ im Stadtgebiet, sondern ist dicht verwoben in die sozialpolitischen Strukturen der Stadt. Eine komparatistische Analyse der Tate Modern und des Guggenheim Museums in Bilbao wird die regionale Einbettung der Museen in ihren urbanen Beziehungen kontrastieren. Eingehende Untersuchungen der politischen, ökonomischen und sozio-strategischen Auswirkungen des Museums auf die Stadtstruktur visualisieren die Institution als Akteur sozialpolitischer Relevanz. Abschließend wird ein Rückblick in die Stadtgeschichte Londons versuchen, die Bedeutung der Tate Modern historisch einzuordnen und den gesellschaftlichen Bedarf an einem Museum sozialpolitischer Natur zu begründen.

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[1] Vgl. Dean, Corinna Lucy Henrietta: Establishing the Tate Modern Cultural Quarter. Social and Cultural Regeneration through Art and Architecture, London 2014, S. 73.

[2] Hyslop, Donald: Culture, Regeneration and Community. Reinventing the City, in: Gateways: International Journal of Community Research and Engagement 5 (2012), S. 154.

[3] Ebd.

[4] Im Folgenden als ‚Tate Modern‘ abgekürzt.

[5] [UK] Museums and Galleries Act 1992 (1992): Museums and Galleries Act 1992 vom 01.09.1992, zuletzt geändert am 21.03.2008, in: HMSO: Museums and Galleries Act 1992, S. 3.

[6] Belting, Hans: Das Museum. Ein Ort der Reflexion, nicht der Sensation, in: MERKUR 56 H. 640 (2002), S. 655-657.

[7] Grasskamp, Walter: Konsumglück. Die Ware Erlösung, München 2000, S. 143.

[8] Vgl. Wainwright, Oliver: Lofts and Caves, in: Dercon, Chris/Serota, Nicholas (Hrsg.): Tate Modern. Building a museum for the 21st century, London 2016, S. 35.

[9] Evans, Graeme/Shaw, Phyllida: The contribution of culture to regeneration in the UK: a review of evidence, London 2004, S. 5.

[10] Während der Nutzung als Kraftwerk beherbergte die Turbinenhalle kohlebefeuerte Motoren zur Energieproduktion, die beim Umbau zum Museum entfernt wurden. Vermutlich wurde aufgrund der Historizität des Ortes ist die Begrifflichkeit „Turbinenhalle“ für das gigantische Foyer des Museums beibehalten.

[11] ICOM: Die Museumsdefinition, 2020, https://icom-deutschland.de/de/nachrichten/147-museumsdefinition.html  [02.12.2020].

[12] Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 31.

[13] ICOM: Begriffe und Konzepte für die ICOM-Museumsdefinition mit der höchsten Wertschätzung in ICOM-Mitgliederbefragungsdaten [zuletzt geändert am: 02.03.2021], https://icom-deutschland.de/de/component/content/article/31-museumsdefinition/265-begriffe-und-konzepte-fuer-die-icom-museumsdefinition-mit-der-hoechsten-wertschaetzung-in-icom-mitgliederbefragungsdaten.html?Itemid=114  [11.03.2021].

[14] Vgl. Dean 2014, S. 68, 78.

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